Kleine Unterseener Kirchengeschichte
1279 gründete Berchtold III von Eschenbach-Oberhofen die Stadt Unterseen an einem Aare-Übergang auf der Schwemmebene zwischen Thuner- und Brienzersee, den schon die Römer benutzt hatten. Der mit einer Stadtmauer befestigte Ort schützte und kontrollierte den Handelsverkehr in die Lütschinentäler und über die Pässe Richtung Innerschweiz und Italien.
Stedtli und Kloster
Die Stadtgründung hatte die Zustimmung des Königs Rudolf von Habsburg, nicht aber die des benachbarten Klosters Interlaken. Das ebenfalls von den Habsburgern protegierte Doppelkloster, das damals 30 Augustiner-Chorherren und 300 Ordensfrauen zählte, war damals die mächtigste Grundherrschaft im Berner Oberland. Sein Besitz reichte von den Oberländer Kuh- und Schafalpen über Fischereirechte in Flüssen und Seen bis zu den Weinbergen am Thunerseeufer und ins Kornland um Bern. Das Land für die Stadtgründung hatte das Kloster nur widerwillig abgetreten. Und es sorgte in den folgenden Jahrhunderten dafür, dass das „Stedtli“ ein Städtchen blieb. Schultheiss und Bürgerschaft von Unterseen wurden für jeden Versuch, ihre Rechte auszudehnen, von Probst und Kapitel von Interlaken vor Gericht gezogen – wenn nötig bis zum Kaiser.
Wachsendes Selbstbewusstsein
Innerhalb der engen Stadtmauern lebten neben einzelnen Dienstadeligen vor allem Handwerker und Gewerbetreibende mit kleinen Gärten und etwas Landwirtschaft. Wie archäologische Notgrabungen vor Neubauten an West- und Ostabschluss zeigten, hatten diese ersten Bürger zum Teil ihre einfache „Alpstadel-Architektur“ in die Stadt mitgebracht; andere – etwa der Bäcker an der Kirchgasse mit seinem einträglichen, aber brandgefährlichen Gewerbe – bauten schon massiv aus Stein.
In der Nordostecke der Stadt wurde schon kurz nach der Stadtgründung eine Kapelle gebaut. Damit ersparten sich die Bürger Unterseens manchen Weg zur Mutterkirche Goldswil. So fanden Archäologen bei der Kirchenrenovation von 1985 zahlreiche Gräber nicht nur vor, sondern auch innerhalb der alten Kapellenmauern – ein Beleg für das wachsende Selbstbewusstsein der Bürger auch in Unterseen, die sich und ihre Familien gleich Adeligen und Geistlichen unter dem Boden des Gotteshauses beerdigen liessen. Der Kontrolle der ungeliebten Nachbarn konnte sich die Stadt mit der Kapelle aber zunächst noch nicht entziehen, wurden doch die Goldswiler Pfarrer vom Kloster Interlaken eingesetzt.
Die erste Kirche
Die Unterseener Kapelle fiel dem grossen Stadtbrand von 1470 zum Opfer. Im Zuge des Wiederaufbaus erhielten die Unterseener von ihrer Schutzmacht, der aufstrebenden Stadt Bern, die Erlaubnis und ein Darlehen für den Bau einer richtigen Kirche. Von diesem Bau steht heute noch der Turm. Der Chor der spätgotischen Kirche hatte die Form eines halben Achtecks – gleich wie derjenige der heutigen Reformierten Kirche Interlaken, der vormaligen Kirche des Männerklosters. Diese erste Stadtkirche stürzte 1851 ein, der Kirchturm steht bis heute.
Die Reform vor der Reformation
Beim Bau in vorreformatorischer Zeit war das Kirchenschiff, in dem sich die Laien versammelten, Sache der Bürgerschaft. Der Chor, in dem die Priester Gottesdienst hielten, gehörte dem Kloster.
Mit der Finanzierung und dem Bau der eigenen Kirche waren aber Organisationsgrad und Selbstbewusstsein der Bürgerschaft gewachsen. Und so erlangte das „Stedtli“ in einem Vergleich, den Bern als Schiedsrichter in verschiedenen Streitigkeiten zwischen Unterseen und dem Kloster Interlaken 1527 ausgehandelt hatte, schliesslich die Kollatur seiner Kirche. Dazu gehörte einerseits das Recht, selber einen Pfarrer zu wählen, anderseits die Pflicht, die Kirche samt Chor und den Pfarrer samt einem Haus und einer „Pfrund“ für sein Auskommen zu unterhalten.
Zugleich wurde Unterseen eine eigenständige „Kirchhöre“. Zu Unterseen gehörte auch Habkern, dessen Bauern mit zahlten, aber auch mit bestimmten. Weil der lange Weg von Habkern zur Kirche Unterseen insbesondere im Winter für viele zu gefährlich war, hatte der Unterseener Pfarrer die Pflicht, regelmässig in Habkern zu predigen, Kinderlehre zu halten und bei Bedarf zu taufen. 1665 durfte Habkern schliesslich seine eigene Kirche bauen und sich selbständig machen.
Berntreues Stedtli
Als Bern 1528 in seinem ganzen Herrschaftsgebiet die Reformation einführte, probten die Oberländer – unterstützt von Innerschweizern – den Aufstand. Einzig Unterseen hielt zu Bern und wurde nach der Niederschlagung des Aufstands mit der Alp Sefinen aus dem ehemaligen Klosterbesitz belohnt.
Die berntreue Haltung erklärt sich in erster Linie aus den jahrhundertelangen Auseinandersetzungen mit dem Kloster, die zum einen dazu führten, dass viele Unterseener zugleich auch das Bürgerrecht des mächtigen Bern erworben hatten; und zum andern war Bern ein zuverlässiger Schiedsrichter gewesen.
Schwingen verboten
Besonders brav und obrigkeitsgläubig waren die Unterseener im Übrigen nicht. So hatte der Pfarrer als lokaler Vertreter der Obrigkeit, sein Chorgericht und dessen Spitzel (die „Heimlicher“) auch in Unterseen alle Hände voll zu tun, um die neuen Sitten-, Schul-, Vormundschafts- und Ehegesetze durchzusetzen. Nach der Reformation setzte eine eigentliche Umerziehung ein, die tief ins Privatleben eingriff und Bräuche wie etwa das Tanzen an Festtagen, das Schwingen und Steinstossen und überhaupt fast alles, was den Leuten Spass gemacht hatte, verbot.
Die neue Gesetzgebung war in Bern wie in anderen neu entstehenden Staaten Europas ein Mittel, die Herrschaft in den historisch gewachsenen, sehr heterogenen Territorien zu festigen. Zugleich war die „Sozialdisziplinierung“ durch die neuen, gegen üppige Vergnügungen gerichteten Ideale im politischen und wirtschaftlichen Leben auch ein Versuch, der Armut vorzubeugen, bestand doch das soziale Netz aus Familie und Nachbarschaft, aus den wenigen Spitälern in ehemaligen Klöstern und dem kärglichen Armengut ärmerer Gemeinden aus mehr Löchern denn Maschen. Insofern wurden die neuen Gesetze auch von vielen Bürgern begrüsst – und oft sogar explizit gewünscht.
Eine Schulpflicht (Kinderlehre) bestand zwar, doch diente sie eher dem Einbläuen der Glaubensgrundsätze als einer Vorbereitung auf das Erwerbsleben. Mangels Fördermitteln versuchte es der entstehende „Policeystaat“ deshalb vor allem mit Verboten und Strafen. Besonders hart trafen die drastischen Strafen die Frauen, die weniger Rechte hatten und sich deswegen auch nicht so gut wehren konnten.
Verdrüssige und vergessene Predigten
Wer in Unterseen gewählt (oder nach der späteren Kompromissformel von der Stadt zur Einsetzung durch die Obrigkeit vorgeschlagen) werden wollte, musste vor der Bürgerschaft „probepredigen“. Allzu glänzend dürfte die Auswahl aber nicht gewesen sein. Denn die Pfründe im Stedtli war armselig – selbst nachdem sie von Bern um 40 Pfund aufgebessert worden war. Weil die Einwohner der Stadt und des kleinen Dorfs Inderlappen (vor dem westlichen Stadttor am Weg zum Neuhaus) nicht durch besonderen Reichtum auffielen, konnten sie dem Pfarrer auch keine grossen Zehnten abliefern. Und die heute noch erhaltenen Inventarlisten der Pfarrhäuser, die bis ins frühe 20. Jahrhundert immer in der engen Häuserzeile der Oberen Gasse standen, sind kurz und karg.
So wunderten sich wohl die Unterseener weniger als die Berner Obrigkeit über ihren Pfarrer Rudolf Abraham Sprüngli (Unterseener Pfarrer 1782-1803), der nicht nur ein beliebter Redner, sondern auch ein begeisterter Jäger war und bei der Gemsjagd auch einmal eine Beerdigung vergass. Weniger Anklang fand Hans Jakob Häusermann (1656-1680), der die Leute mit seinen langen und „verdrüssigen“ Predigten von der Arbeit abhielt – und mit einer dreistündigen Standpauke am Neujahrsmorgen 1660 sogar von ihren üppigen Neujahrsbräuchen.
Nach dem Bildersturm
Allerdings kämpfte nicht nur Pfarrer Häusermann vergeblich gegen leere Kirchenbänke. Die Predigt in einer reformierten Kirche konnte auch kaum mit besonderen Unterhaltungswerten locken. Musikinstrumente waren in den ersten Jahrhunderten ebenso verboten wie Bilder – aus Unterseen überlebte vermutlich nur das Altarbild den Bildersturm, das heute in der Kapelle der Benediktinerinnen in Sarnen zu sehen ist. Auch Spiel, Handwerk und Landwirtschaft hielten die Einwohner vom Kirchenbesuch ab – und im 19. Jahrhundert zunehmend auch die Arbeit im Tourismus, der sich auf dem Bödeli besonders nach den ersten Unspunnenfesten zu einer wichtigen Industrie entwickelte.
Die Orgel und die neue Kirche
Ein wichtiger Schritt zur Entwicklung der modernen Kirchgemeinde war der Einbau einer Orgel „zur Hebung des Kirchengesangs“, für den die Unterseener eine Subscribenten-Gesellschaft gründeten, die Kapital und Darlehen für das Instrument und die nötige Erweiterung des Chors auftrieb. Allerdings wirkte sich die Erweiterung ungünstig auf die Statik des Gebäudes aus; noch bevor die Schulden abgezahlt waren, brach das Dach im Winter 1851 unter der Schneelast ein – zur Erleichterung der Bürger in der Nacht, als das Gebäude leer war. Die Unterseener gaben aber nicht auf, umgingen die drohende Fusion mit Interlaken und trotzten Spöttern wie Jeremias Gotthelf, der mit Blick auf das bereits verpfändete Schulhaus der Gemeinde anmerkte, nachdem nun auch die Kirche weg sei, gäben die Unterseener nun wohl auch den Pfarrer auf die Gant. Eine erste moderne „Kirchgemeindeversammlung“ beschloss, die Kirche trotz Neuverschuldung wieder aufzubauen – so weit wie möglich mit bescheiden entschädigtem „Tagwerk“ der Gemeindemitglieder selbst. Das Resultat war der nüchterne rechteckige Bau mit der guten Akustik, der heute noch steht.
Die heutige Orgel mit Brienzer Schnitzereien stammt von 1956.
Politik und Kirche
Die erste Orgel 1844 führte nicht nur zum Ende der alten Kirche; ihre Planung und Finanzierung beschleunigte auch die Entwicklung einer modernen Kirchgemeinde.
Schon mit dem Sieg der Liberalen in der bürgerlichen Revolution von 1830 war das Chorgericht im Staat Bern abgeschafft worden. Allerdings gab es noch ein Sittengericht, das, in engeren Grenzen, in der Manier des alten „Policeystaates“ über das Privatleben der Bürger wachte. Offiziell trat der erste gewählte Kirchenvorstand sein Amt erst 1852 an, nachdem das Sittengericht abgeschafft worden war. Tatsächlich aber hatte in Unterseen wegen des Orgelgeschäfts schon einige Jahre früher ein von den Einwohnern beauftragter Kirchenvorstand seine Arbeit aufgenommen. Aus dieser Zeit stammt auch die Kirchgemeindeversammlung in ihrer modernen Form, der das Kirchengesetz 1874 unter anderem das Pfarrerwahlrecht übertrug oder im Fall von Unterseen, zurückgab.
Die Güterausscheidung zwischen Kirch- und politischer Gemeinde, die sich mit der Trennung Politik und Religion im 19. Jahrhundert als separate Institutionen entwickelten, begann 1861 und zog sich Jahrzehnte hin. So wurde etwa im Ausscheidungsvertrag von 1888 festgelegt, dass die für das Zivilstandswesen zuständige Einwohnergemeinde für Trauungen auch die Kirche benutzen durfte.
Die Trennung von Kirch- und politischer Gemeinde ermöglichte unterschiedliche Entwicklungen. So durften bernische Kirchgemeinden das Frauenstimmrecht schon seit 1917 einführen. In Unterseen beschloss die Kirchgemeindeversammlung 1930 das Frauenstimmrecht. Doch noch 1950 verliess der Kirchgemeindepräsident unter Protest die Versammlung, nachdem die erste Frau in den Kirchgemeinderat gewählt worden war.
Kirche und Staat
Eine strikte Trennung von Kirche und Staat kennt der Kanton Bern bis heute nicht. Ein Grund dafür ist die Mediationsakte von 1804, welche die französische Besatzung und kurze revolutionäre Zeit nach dem Ende des Ancien Régime beendete. Sie sprach das Kirchengut dem Staat Bern zu, der dafür die Pflicht zu übernehmen hatte, die Pfarrer zu besolden. Mit dem 2017 revidierten Kirchengesetz bezahlt der Staat die Pfarrerlöhne allerdings nicht mehr direkt, sondern über einen Pauschalbetrag an die reformierte, katholische und christkatholische Kirche.
Quelle: Ernst Schläppi, Unterseen, Band I: Im Alten Bern, Band II: Im neuen Kanton (herausgegeben von der Einwohnergemeinde Unterseen, Druck und Verlag: Schläfli und Maurer, Interlaken 2008).