Das verschwundene Jesuskind

Foto: Team KGU

Die ganze Gemeinde war stolz auf die Weihnachtskrippe in ihrer Kirche. Denn alle hatten ihren Anteil zu der kunstvollen Bastelarbeit der Krippe beigetragen. Auch die Bemalung der lebendig wirkenden Figuren von Maria und Joseph, der Hirten und Könige, von Ochs und Eselein und den weißen wolligen Lämmchen, die sich zwischen den Hirten neugierig hinzudrängten, war Gemeinschaftswerk gewesen. Neben dem Eingang zur Höhle standen ein paar exotische Pflanzen, eine Zwergpalme, eine Aloe und ein paar blühende Kakteen. Über der Höhle leuchtete der Stern von Bethlehem. Das Innere der Höhle lag im Dunkel, aber in der Wölbung war eine Öffnung, durch die der helle Glanz des Sterns hereinstrahlte. Das Jesuskind in der Krippe war die Freude aller Kinder. Es lächelte so lieb und streckte seine Händchen aus, als wolle es sagen: »Lasst die Kindlein zu mir kommen. – Und sie kamen nur zu gern. Niemand hätte sich ein Weihnachtsfest ohne diese Krippe vorstellen können.
Und dann geschah das Unfassbare: Als der Pfarrer kurz nach Weihnachten durch das Kirchenschiff ging und dabei noch einen Blick auf die Krippe werfen wollte, kam ihm der Sigrist in heller Verzweiflung entgegen. Er stotterte vor Aufregung, »das Kind ist weg! Unser Jesuskind – aus der Krippe haben sie es gestohlen!« Der Pfarrer schüttelte ungläubig den Kopf. »Das gibt es in unserer Gemeinde nicht.« »Dann muss es jemand aus einer anderen Gemeinde sein, der neidisch auf unsere schöne Krippe war.« Auch das schien dem Pfarrer nicht einzuleuchten. Sie standen noch hinter einer Säule beeinander, als die Kirchentür sich öffnete und kurze eilige Schritte auf dem Steinboden widerhallten. »So unbekümmert tritt kein Dieb auf«, sagte sich der Pfarrer und neigte sich etwas vor, um den Eintretenden besser sehen zu können. Der Kleine, der da so selbstsicher, ohne nach links und rechts zu sehen, direkt auf die Krippe zulief, war ein etwa fünfjähriger Knabe aus dem Dorf. »Wie wird er erschrecken, wenn er die Krippe leer findet«, dachte der Pfarrer mit Bedauern. Aber was trug er im linken Arm, sorgfältig unter der Jacke versteckt? Ob er dem Jesuskind ein Spielzeug bringen wollte? – Schon manchmal hatte der Pfarrer bunte Murmeln und Bälle und Süssigkeiten gefunden, die Buben und Mädchen dem Kind in der Krippe wie einem kleinen Spielkameraden heimlich gebracht hatten. Aber was der Kleine jetzt unter der Jacke hervorholte, schien ein großes Spielzeug zu sein.
Er beugte sich über die leere Krippe und legte mit behutsam das Mitgebrachte hinein. Dann glättete er sorgfältig Stroh und Moos ringsum, und als er dabei zur Seite trat und den Blick auf die Krippe freigab, glaubte der Pfarrer seinen Augen nicht trauen zu dürfen – denn da lag vor ihm lächelnd, mit zärtlich ausgestreckten Händchen, das verschwundene Jesuskind. Nun wandte sich der Knabe zum Weggehen. Aber dann blickte er sich noch einmal um und nickte dem Kind in der Krippe so vertraut und lächelnd zu, wie einem guten Kameraden nach fröhlichem Spiel. Da stand der Pfarrer vor ihm. »Wie kommst du zu dem Jesulein?« fragte er erstaunt. »Wo hast du es gefunden? Oder wer hat es dir gegeben?« »Niemand hat es mir gegeben sagte der Bub, »ich habe es aus der Krippe genommen.« »Aber warum denn? Was hast du denn mit dem Jesuskind gemacht?« Jetzt wurde der Kleine verlegen und blickte scheu vor sich hin. Dann schaute er den Pfarrer treuherzig an und sagte: »Herr Pfarrer, das war nämlich so: Ich hätte so gern einen schönen Roller gehabt, weil ich doch so gern Roller fahren »Und hast keinen bekommen?« fragte der Pfarrer voll Bedauern. »Meiner Mutter war er zu teuer, erklärte der Bub, »und da hab ich mir vom Christkind einen gewünscht.« »Und das Christkind hat dir den Roller gebracht?« »O ja, Herr Pfarrer«, sein Gesichtchen strahlte. »Einen ganz wunderschönen Roller. Und ich bin so glücklich und dem lieben Christkind so dankbar. Ach, Herr Pfarrer, und da hab ich gedacht, wo doch alle Kinder so gern Roller fahren, würde es dem Christkind auch Freude machen, und weil ich ihm so dankbar bin, wollte ich ihm mal zeigen, wie schön es sich mit dem neuen Roller fahren lässt…« »Und da bist du mit dem Jesuskind Roller gefahren?« »Ja, Herr Pfarrer, jetzt eben in der schönen Mittagssonne. Drei Ehrenrunden hab ich mit ihm um die Kirche gemachte

Nach: Catbarina Bachem-Tonger, Aus: Wenn es wieder Weihnachten wird, TigrisVerlag, 1989